Das Hermann-Gitter und die Folgen

Im Jahre 1870 entdeckte Ludimar Hermann eine neue Kontrasttäuschung („Hermann-Gitter“). Seine kurze Veröffentlichung wurde zunächst kaum beachtet. Seit 1960 spielt das Hermann-Gitter in der Sehforschung eine zunehmend wichtige Rolle. An dem Muster können Modelle zur Informationsverarbeitung im visuellen System geprüft werden. In fast jedem Lehrbuch der Physiologie findet sich heutzutage eine Erklärung des Hermann-Gitters, die auf der rezeptiven bzw. perzeptiven Feldorganisation der Netzhaut beruht.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Modifikationen des Urmusters mit zum Teil äußerst verblüffenden neuen Wahrnehmungseffekten. Die bis heute anhaltende Aktualität des Hermann-Gitters beruht einerseits auf dessen Beispielcharakter für sehphysiologische Modelle des Helligkeitskontrastes, andererseits werfen insbesondere die vielfältigen Abwandlungen des Hermann-Gitters zahlreiche neue Fragen auf, für die es zur Zeit noch keine schlüssigen Antworten gibt.

Ausgerechnet die derzeit vielleicht bekannteste Kontrasttäuschung -das Hermann-Gitter – war in der Literatur lange Zeit verschollen. In Pflügers Archiv der gesamten Physiologie von 1870 finden sich gerade mal eineinhalb Seiten über „Eine Erscheinung simultanen Kontrastes“ von Ludimar Hermann, eingebettet zwischen zwei weiteren Arbeiten desselben Autors, nämlich „Über die Gefahr des kalten Trunks bei erhitztem Körper“ und „Weitere Untersuchungen über die Ursache der elektromotorischen Erscheinungen an Muskeln und Nerven“. Bis heute ist die Beschreibung dieses Kontrastphänomens kaum besser gelungen als im ursprünglichen Text von Hermann selbst:

„Als ich zum ersten Male die von Helmholtz und Wiedemann herausgegebene deutsche Übersetzung der Tyndall`schen Vorlesungen über den Schall in die Hand nahm, fiel mir an der Figurentafel S. 169 ein sehr prägnantes Phänomen auf. Diese Tafel enthält nämlich in regelmäßiger Anordnung schwarze quadratische Felder (deren jedes eine Klangfigur zeigt), die dazwischen frei gebliebenen weißen Räume bilden ein regelmäßiges Streifengitter. In jedem Kreuzungspunkte dieses Gitters sieht man nun sofort einen dunklen verwaschenen Fleck. Fixiert man einen einzelnen der Kreuzungspunkte scharf, so erscheint er so weiß wie seine Nachbarschaft. Die Erscheinung sieht ein jeder der darauf aufmerksam gemacht wird; für meine Augen scheint sie ganz besonders intensiv zu sein, denn mir erschien sie von Anfang an so auffallend, dass ich mich immer wundere wenn jemand, dem ich das Blatt zeige, sie nicht ohne Weiteres bemerkt. In demselben Buche, S. 384, findet sich noch eine andere, ähnliche Tafel, hier sind aber die horizontalen Streifen des weißen Gitters breiter als die vertikalen, und das Phänomen, obgleich sehr deutlich, doch weniger schön“.

Ludimar Hermann verzichtete in seiner kurzen Mitteilung auf eine Abbildung. Offenbar konnte er damals davon ausgehen, dass John Tyndalls „Schall“ jedermann leicht zugänglich war. Wir bezweifeln, dass dies auch heute noch so ist und geben deshalb hier (Abb. 1) wenigstens die eindrucksvollere der beiden Seiten aus Tyndalls Werk wieder.

Abbildung der Chladnischen Klangfiguren

Abb 1: Im Jahre 1870 blätterte der Physiologe Prof. Ludimar Hermann in dem Physikbuch von John Tyndall „Der Schall“. Wahrscheinlich träumte er gerade vor sich hin, als er auf Seite 169 eine Abbildung der Chladnischen Klangfiguren sah. Dabei entdeckte er dass die Kreuzungen der weißen „Straßen“ in dem Muster dunkler aussehen, als die Straßen selbst. Ludimar Hermann berichtete über diese Beobachtung im gleichen Jahr in „Pflügers Archiv der gesamten Physiologie“.

Hermann konnte kaum ahnen, wie aktuell sein Schlusssatz:

„Ohne Zweifel sind anderen bereits ähnliche Erscheinungen bekannt; die hier erörterte habe ich nirgends beschrieben gefunden, und da sie zur Demonstration des simultanen Kontrastes in Vorlesungen sehr geeignet ist, habe ich es für die Mühe wert gehalten, diese kurze Notiz zu veröffentlichen“

Heute findet sich sein Muster als Demonstrationsbeispiel in nahezu jedem Lehrbuch der Physiologie, wenn auch oft noch unter anderem Namen, nämlich als Hering-Gitter. In der Tat war der Physiologe Ewald Hering wohl der erste, der die Bedeutung von Hermanns Beobachtung würdigte und in seinem „Lichtsinn“ eine auf das Wesentliche beschränkte Darstellung des Gitters in beiden Kontrastpolaritäten gab (Abb. 2). Die Kreuzungsstellen des weißen Gitters erscheinen verdunkelt, die des schwarzen aufgehellt.

Das Hermann-Gitter

Abb. 2: Das Hermann-Gitter. Links: Die Kreuzungen erscheinen dunkler als die Straßen, aber nur im peripheren Gesichtsfeld. Bei Fixation einer Kreuzung verschwindet die Täuschung an dieser Stelle, bleibt aber im Umfeld erhalten. Einige Beobachter können dunkle Diagonalen mitten durch die Kreuzungen „sehen“. Rechts: In der Negativdarstellung kehrt sich auch die Täuschung um. Die Kreuzungen erscheinen aufgehellt.

Obwohl im „Lichtsinn“ ausdrücklich auf Hermann verwiesen wird, ging seine Täuschung seit Herings Dokumentation als „Hering-Gitter“ in die Literatur ein. Erst in einer Arbeit von Ehrenstein wird 1941 auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht und Ludimar Hermann als Entdecker der Täuschung genannt. Zugleich verweist Ehrenstein auf einen Mangel in der posthum (1920) erschienenen Ausgabe von Herings „Lichtsinn“. Statt der Originalarbeit von Hermann findet sich folgende Bemerkung.

„Das Literaturverzeichnis, auf dessen Nr. 31 HERING verweist, fehlt jedoch im „Lichtsinn“. Es war mir nicht möglich, die Arbeit anderweitig ausfindig zu machen. Für einen Hinweis wäre ich verpflichtet.“

Mit Ehrenstein beginnen auch die vielfältigen Versuche, das Hermann-Gitter abzuwandeln, die zu oft verblüffenden neuen Wahrnehmungseffekten geführt haben. Wenn die Kreuzungsstellen des Hermann-Gitters ausgespart werden, dann erhält man statt einer Verdunklung eine markante Aufhellung (Abb. 3), die durch diagonale Kreuze noch verstärkt wird. Die Kreuzungsstellen erscheinen nicht mehr als verwaschene Flecken, sondern als helle, weiße Kreise, die sich sogar vom weißen Hintergrund abheben („weißer als weiß“). Bei Kontrastumkehr, also weißen Linien auf schwarzem Grund, wird ein analoger Effekt beobachtet („schwärzer als schwarz“). Neben der kontrastbedingten Aufhellung sind hier also auch Scheinkonturen sichtbar, deren Grundlagen heute in zunehmenden Maße erforscht werden.

Ehrenstein-Täuschung

Abb. 3: Ehrenstein-Täuschung. Diese Täuschung entstand als eine“Abwandlung“ des Hermann-Gitters von Abb. 1. Es sind nur die Kreuzungen weggelassen. Die so ausgesparten Stellen des Musters erscheinen deutlich aufgehellt als weiße Kreise. Die zusätzlichen Diagonalen verstärken die Täuschung. Die scheinbaren Kreise heben sich deutlich vom weißen Papier ab („weißer als weiß „).

Rezeptive Felder

In den fünfziger Jahren hatten die Neurophysiologen den Begriff rezeptive Felder geprägt. In den Ganglienzellen des Nervus Opticus (Sehnerv) laufen die Informationen von vielen Rezeptoren der Netzhaut zusammen (Abb. 4). Das muss so sein, denn in der Netzhaut eines Auges gibt es etwa 6 Millionen „Tag-Rezeptoren“ (Zapfen) und über 100 Millionen „Nacht-Rezeptoren“ (Stäbchen), aber nur circa 1 Million Nervus Opticus Fasern. Die Rezeptoren bzw. deren Signale werden in den rezeptiven Feldern zu funktionellen Einheiten zusammengefasst. Zwischen den Rezeptoren und dem Sehnerv ist ein ganzes System von weiteren Nervenzellen zwischengeschaltet. 

Zum einen sind es die sogenannten Bipolarzellen, die eine direkte Verbindung zwischen Rezeptor und Nervus Opticus Faser herstellen können. Zum anderen gibt es auf der Ebene der Rezeptoren wie auch der Neurone zusätzliche Querverbindungen. Die Horizontalzellen sind mit den Rezeptoren und den Bipolarzellen verbunden
während die amakrinen Zellen für Verknüpfungen zwischen Bipolarzellen und Ganglienzellen sorgen. Horizontal-, Amakrin- und Bipolarzellen bewirken bei Reizung entweder eine Verstärkung (excitation) oder eine Abschwächung (Hemmung, inhibition) des Eingangssignals.

Schematischer Querschnitt durch die Netzhaut

Abb. 4: Schematischer Querschnitt durch die Netzhaut. Z: Zapfen, S: Stäbchen, H: Horizontalzellen, B: Bipolarzellen, A: Amakrine, N.O.: Die Zellkerne der Nervus Opticus Fasern (N.O.) sind im mikroskopischen Bild besonders auffällig. Daher stammt auch der Name Ganglienzellen (ganglion.; Knoten)

Die rezeptiven Felder der Ganglienzellen sind kreisförmig. Sie überlappen sich und sind auch unterschiedlich groß. Wenn ein Lichtpunkt auf ein rezeptives Feld fällt, dann kann das zugehörige Neuron in seiner Aktivität verstärkt aber auch gehemmt werden, je nachdem ob der Lichtreiz im Zentrum oder in der Peripherie des rezeptiven Feldes einwirkt. Man unterscheidet dabei On-Zentrum-Zellen und Off-Zentrum-Zellen. Bei einer On-Zentrum-Zelle wirkt ein Lichtreiz im Zentrum verstärkend und in der Peripherie hemmend, bei einer Off-Zentrum-Zelle bewirkt Licht im Zentrum Hemmung, im Umfeld Erregung. Fällt Licht auf das gesamte rezeptive Feld eines On-Zentrum-Neurons, dann ist dessen Entladungsrate teilweise gehemmt, die zugehörige Lichtempfindung ist dann weniger hell als wenn nur das Zentrum belichtet wird. Dieser Vorgang wird auch laterale Hemmung genannt.

Wenn nun die Straßen im Hermann-Gitter gerade so breit sind wie das Zentrum, dann fällt die Peripherie des rezeptiven Feldes in den Bereich der schwarzen Quadrate. Die Peripherie des rezeptiven Feldes wird zum großen Teil nur schwach belichtet, die Hemmung in der Peripherie ist also gering und die Straße erscheint hell.

An den Kreuzungsstellen gibt es mehr Licht in der Peripherie und entsprechend auch mehr Hemmung, entsprechend dunkler erscheinen die Kreuzungen.

Rezeptive Felder (RF) beim Hermann-Gitter

Abb. 5 Rezeptive Felder (RF) beim Hermann-Gitter In den Straßen fällt die Peripherie des RF in den Bereich der schwarzen Quadrate. Die Hemmung ist gering, die Straße erscheint hell. Bei den Kreuzungen wird die Peripherie des RF stärker belichtet. Die Hemmung ist stärker und entsprechend dunkler erscheinen die Kreuzungen. In der Skizze ist ON mit + und OFF mit -gekennzeichnet.

Das Hermann-Gitter wurde durch diese neurophysiologische Erklärungsmöglichkeit plötzlich wieder hochaktuell. Mit Hilfe des Hermann-Gittereffekts war es nun auch umgekehrt möglich, die Größe der rezeptiven Felder durch systematische Variation der Reizparameter psychophysisch abzuschätzen. Allerdings bleiben Fragen offen, zum Beispiel können die Diagonalen im Gitter so nicht erklärt werden.

Rezeptive und perzeptive Felder

Sowohl Hermann als auch Hering betrachteten das Auftreten der subjektiven Verdunklungen bzw. Aufhellungen als Beispiel für den simultanen Helligkeitskontrast. Obwohl Augenbewegungen und die durch sie verursachten sukzessiv erfolgenden Verlagerungen von Netzhautund Nachbildern die Täuschung beeinflussen können, sind diese kaum als eigentliche Ursache aufzufassen, da die Täuschung auch dann auftritt, wenn das Gittermuster nur sehr kurz (bei Hering zum Beispiel nur 25 ms) dargeboten wird. Die Erklärung als simultaner Helligkeitskontrast blieb allerdings lange Zeit rein beschreibend, d.h. ohne physiologische Grundlage. Erst 1960 gelang es Baumgartner [6] und später Spillmann die durch das Hermann-Gitter hervorgerufene Kontrastwahrnehmung auf die Eigenschaften rezeptiver Felder zurückzuführen, d.h. die subjektiven Veränderungen der Helligkeitswahrnehmung beim Menschen mit dem objektiven Entladungsverhalten von Neuronen im Sehsystem von Katze und Affe zu korrelieren.

Genau 100 Jahre nach Hermanns Veröffentlichung prägten Jung und Spillmann 1970, basierend auf Studien am Hermann-Gitter, den Begriff des perzeptiven Feldes. Perzeptive Felder sind räumlich begrenzte Sehphänomene, deren Ausdehnung analog zur rezeptiven Feldorganisation als Helligkeitskontrast sichtbar wird, wozu das Hermann-Gitter als Beispiel par excellence diente. Die genaue Größe rezeptiver Felder lässt sich psychophysisch dadurch bestimmen, dass die Streifenbreite des Gitters, der Ort der Netzhautabbildung oder der Beobachtungsabstand systematisch variiert werden. Spillmann fand für die Fovea sehr kleine Streifenbreiten, bei der die Hermann-Gittertäuschung optimal auftritt (5` für das Zentrum und 18` für Zentrum und Randzone). Bei peripherer Abbildung nimmt die optimale Streifenbreite zu, woraus sich perzeptive Feldzentren von 1,50 bzw. 3° bei Exzentrizitäten von 15` bzw. 60` ergeben.

Diese Abhängigkeit der Größe der rezeptiven bzw. perzeptiven Felder von der Lage im Gesichtsfeld erklärt, warum im direkten Sehen die Täuschung im Hermann-Gitter (Abb. 2) nicht oder nur schwach sichtbar ist. Die Streifenbreite ist für foveale rezeptive Felder zu groß. Wenn in Abb. 2. links eine „graue“ Kreuzung fixiert wird, verschwindet die Täuschung. Dafür tauchen peripher neue graue Kreuzungen auf. Erst wenn die Streifenbreite hinreichend klein ist, tritt die Täuschung auch foveal auf.

Grenzen der perzeptiven Feldkonzeption

Das bisherige Konzept beruht auf der Annahme konzentrischer rezeptiver Felder wie sie für retinale Ganglienzellen typisch sind. Würden diese allein für die Hermann-Gittertäuschung verantwortlich sein, dann dürfte die Täuschung keine Orientierungsabhängigkeit zeigen, zum Beispiel wenn das Muster in Abb. 2 um 45° gedreht wird. Statt dessen kann beobachtet werden, dass unter diesen Bedingungen, die Helligkeitstäuschung schwächer wird. Zusätzlich tritt ein weiterer Effekt deutlicher hervor: es können schwarze Diagonalen wahrgenommen werden. Diese wurden von Prandtl erstmals 1927 am Hermann-Gitter beobachtet und als „Spinnwebfäden“ beschrieben. Die Abhängigkeit der Täuschung von der Orientierung spricht für den Einfluss von orientierungsselektiven Neuronen mit länglichen
rezeptiven Feldern und – da diese nur auf corticaler Ebene zu finden sind – gegen einen rein retinalen Ursprung. Sehr deutlich sichtbar sind die Spinnweb-Linien auch in der rautenförmigen Variante des Hermann-Gitters von Motokawa (Abb. 6).

Die Grenzen des auf konzentrischen rezeptiven Feldern basierenden Erklärungsansatzes wird auch bei einem zuerst 1985 von Lingelbach et al. beschriebenen Muster sichtbar (Abb. 7). Die dort zusätzlich eingefügten diagonalen Linien sollten (infolge geringerer lateraler Hemmung) zu einer Verstärkung der Täuschung führen, tatsächlich bewirken sie deren Wegfall oder mindestens deutliche Abschwächung.

Modifikation des Hermann-Gitters von Motokawa

Abb. 6: Modifikation des Hermann-Gitters von Motokawa. Von rechts oben nach links unten können deutlich dunkle Diagonalen wahrgenommen werden.

Modifikation des Hermann-Gitters von Lingelbach

Abb. 7. Modifikation des Hermann-Gitters von Lingelbach. Eigentlich sollten die zusätzlich eingeführten Diagonalen nach der auf rezeptiven Feldern beruhenden Erklärung die HermannTäuschung verstärken. Das Gegenteil istjedoch der Fall. Die Täuschung verschwindet  oder ist zumindest deutlich herabgesetzt.

Fourier-Analyse

Der hier sichtbar werdende besondere Einfluss der Diagonalen sprichtwiederum für eine Erklärung auf höherer, corticaler Ebene des Sehsystems, auf der wie bereits erwähnt eine orientierungsspezifische Verarbeitung von Sehinformationen vorgenommen wird. Gerade den Diagonalen vermag ein auf Campbell und Robson zurückgehendes Modell der visuellen Informationsverarbeitung gerecht zu werden, nämlich das der zweidimensionalen Fourier-Analyse. Jedes zweidimensionale Muster kann demnach aus einer Summe geeigneter Sinusgitter erzeugt werden (Fourier-Synthese). Umgekehrt kann das Muster in seine Komponenten aus Sinusgittern zerlegt werden (Fourier-Analyse). Manches spricht dafür, dass im visuellen System so etwas wie eine Fourier-Analyse stattfindet. Auch dies lässt sich leicht am Hermann-Gitter (Abb. 2) demonstrieren. In der Fourier-Analyse treten um 45° gedrehte Sinusgitter deutlich hervor, deren Dunkelanteile durch die Kreuzungen der weißen Straßen laufen.

Vielleicht sind es diese Dunkelanteile, die manchmal als diagonale Spinnweb-Linien im Hermann-Gitter wahrgenommen werden. Diese Spinnweb-Linien sind in horizontal-vertikaler Orientierung am deutlichsten zu sehen. Bekanntlich sind orientierungsspezifische Neurone in diesen beiden Richtungen häufiger vertreten als in den Diagonalen. Daher ist auch die Wahrnehmung für horizontale und vertikale Strukturen besonders empfindlich.

Szintillierendes Gitter

Es lag also nahe, das Hermann-Gitter mittels Fourier-Analyse näher zu untersuchen. Im Sommer 1994 experimentierten Elke und Bernd Lingelbach sowie Michael Schrauf mit einer tiefpassgefilterten (=unscharfen) Version des Hermann-Gitters. Bereits 1985 hatte J.R. Bergen an einem ähnlichen Muster ein eigenartiges Aufblitzen an den Kreuzungsstellen bemerkt. Bergen prägte damals den Begriff „Scintillation Grid“.

In unserem unscharfen Hermann-Gitter war das Szintillieren wesentlich deutlicher zu sehen als in Jim Bergens Original. Trotzdem fand Elke das Muster zu kompliziert. Sie war nämlich für das Programmieren zuständig und ein tiefpassgefiltertes Hermann-Gitter auf den Bildschirm zu bringen, ist nicht gerade einfach. Elke wollte erst einmal ein einfacheres, nicht gefiltertes Muster mit ähnlichen Helligkeitsverteilungen programmieren. Bernd und Michael meinten, das sei Zeitverschwendung, denn schließlich hätten sich bereits genügend Wissenschaftler mit direkten Varianten des Hermann-Gitters beschäftigt. Elke blieb stur und nach 10 Minuten hieß es „schaut mal, ich habe was für euch“. Bernd und Michael wurden geradezu erschlagen von schwarz aufflackernden Punkten. Allen Dreien war klar, dass Elke ein grundlegend neues Täuschungsmuster entdeckt hatte. Das eigentlich Neue an diesem Muster besteht darin, dass es statt einer 2-stufigen (schwarz-weißen) eine 3-stufige Helligkeitsverteilung aufweist. Die Quadrate sind schwarz geblieben, die Straßen aber grau geworden und nur die Kreuzungsstellen sind (ähnlich wie bei der Ehrensteinschen Modifikation des Hermann-Gitters) weiß geblieben. Es ergeben sich so weiße Punkte auf grauem Gitter bei schwarzem Hintergrund. 

Das neue Muster wurde auf der European Conference on Visual Perception in Tübingen, August 1995, zum ersten Mal vorgestellt, wo es in der Fachwelt sofort erhebliches Aufsehen erregte. Kurz vor Weihnachten 2000 wurde Elkes Muster schließlich – aus aktuellem Anlass und mit einem genialen Text versehen – weltweit per E-Mail von Rechner zu Rechner geschickt (Abb. 8).

Scintillation Grid

Abb. 8 (Scintillation Grid). Mit dem Text, „Count and total black dots for Al Gore and white dots for George Bush. Recount to confirm“, versehen wurde das Muster kurz vor Weihnachten 2000 per E-Mail weltweit verbreitet.

An Stelle der weißen Punkte in den Kreuzungen tauchen tiefschwarze Punkte auf. Sie verschwinden sofort wieder, aber dafür tauchen sie an anderen Stellen wieder auf. Die schwarzen Punkte sind nur im peripheren Sehen sichtbar. An der Stelle, die gerade fixiert wird, sind nur weiße Punkte sichtbar. Wenn der Beobachtungsabstand geändert wird, so lässt sich leicht ausprobieren, dass es eine individuelle optimale Entfernung gibt, in der der Effekt besonders stark ist. Monokular funktioniert es auch, in diesem Falle „flackern“ allerdings deutlich weniger schwarze Punkte auf. Im Gegensatz zur Hermann-Gitter-Täuschung lässt sich der Szintillationseffekt bisher nicht überzeugend erklären. Sicher handelt es sich nicht um ein einfaches Kontrastphänomen, denn dafür ist der Effekt viel zu stark und fluktuierend. Die Täuschung ist auch nicht notwendig an die regelmäßige Gitterstruktur gebunden. Sie kann auch, allerdings wesentlich schwächer, auftreten, wenn die Kreuzungselemente des Gitters isoliert und unregelmäßig verteilt sind und bleibt selbst bei ungekreuzter Linienanordnung bestehen. Dies erfordert Erklärungsansätze, in die neben der globalen Fourier-Analyse auch lokale Eigenschaften der Bildanalyse (Gabor-Funktionen, Wavelets) einbezogen werden.

Diagonal-orthogonale Gitterkombination

Abb. 9 Diagonal-orthogonale Gitterkombination: In diesem Muster lassen sich zusätzlich drei weitere Wahmehmungseffekte beobachten. Bitte klicken Si rauf das Gitter um eine größere Darstellung zu sehen.

  1. Der blaue Grund erscheint im Streifenbereich, das heißt dort, wo die weißen Punkte des diagonalen Gitters ausgelassen sind, deutlich aufgehellt.
  2. Innerhalb dieser breiten hellblauen Streifen sind je 3 dunkle horizontale bzw. vertikale Linien zu sehen.
  3. Nach einiger Zeit fangen diese Schein-Linien an zu flimmern und erzeugen den Eindruck, als würde sich etwas auf den Linien hin und her bewegen.

Eine neue Gittervariante

Abschließend soll eine weitere Variante des Hermann-Gitters vorgestellt werden. Das Grundmuster, ein szintillierendes Gitter, ist um 450 gedreht (da so die neuen Effekte am stärksten auftreten) und auf zwei horizontalen und drei vertikalen breiten Streifen sind einfach die weißen Punkte weggelassen. Diese ausgesparten Bereiche erscheinen in einem helleren Blau als die objektiv gleichen aber dunkelblau erscheinenden Grundflächen in dem mit Punkten belassenen Quadratbereich. Weiter sind in den helleren breiten Streifen deutlich je drei horizontale bzw. vertikale dunkle Linien zu sehen (Abb. 9). Sie treten viel stärker hervor als in dem Muster von Motokawa (Abb. 6). In einem großen Poster ist der Effekt so stark, dass die Beobachter zunächst glauben, die dunklen Linien seien nicht scheinbar, sondern objektiv vorhanden. 

Bei längerer Betrachtung tritt ein zusätzliches eigenartiges Phänomen auf. Die virtuellen Linien fangen an zu zittern und zu flimmern und es scheint etwas hin und her zu strömen. Diese zusätzlich dynamische Qualität des Strömens erinnert an ein Bild aus der „Enigma“-Reihe von Isia Leviant, in dem farbige Ringe auf einem radialen Schwarz-Weiß-Muster nach längerer Betrachtung in kreisförmiger Bewegung „wie von einem Materiestrom durchzogen“ erscheinen.

Wie die Dynamik sowohl der fluktuierenden „Blitze“ wie auch der strömenden Linien zustande kommt, ist noch völlig offen. Sicher sind Augenbewegungen hierbei maßgeblich beteiligt. Sie allein reichen aber wie schon bei der Erklärung des Hermann-Gitters kaum aus. Dies vor allem deshalb, weil wir inzwischen feststellen konnten, dass der Effekt des Zitterns wie auch die Deutlichlichkeit des Auftretens von Streifen kritisch von der jeweiligen Farbzusammensetzung des Musters abhängt. Wir müssen es daher vorerst dem Leser überlassen, selbst weitere Überlegungen und evtl. auch eigene Versuche anzustellen, die zu einer Aufklärung der verblüffenden Wahmehmungseffekte beitragen können.

Anschrift der Autoren dieses Artikels

Bernd Lingelbach und Walter H. Ehrenstein

Bernd Lingelbach,
Institut für Augenoptik, Leinroden, Untere Gasse 17, D-73453 Abtsgmünd
und FH Aalen, Studiengang Augenoptik, Gartenstraße 133, D-73430 Aalen
E-Mail: Bernd.Lingelbach@fh-aalen.de

Walter H. Ehrenstein,
Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund,
Ardeystr. 67, D-44139 Dortmund
E-Mail: ehrenst@ifado.de

Copyright dieses Artikels bei obigen Autoren. Das optikum dankt den beiden Autoren für diesen Artikel!

Siehe auch den 2004 erschienen Artikel „Neues vom Hermann Gitter„.

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