Aldous Huxley – die Kunst des Sehens

Spätestens seit den Lehren von Dr. Bates in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, erhofften sich manche fehlsichtige Personen eine Möglichkeit ihren axialen Brechwertfehler durch regelmäßige Übungen „wegtrainieren“ zu können. Auch der als Literat weltweit geschätzte, geniale Essayist und Philosoph Aldous Huxley war von dieser Möglichkeit aufgrund eigener Lebenserfahrungen überzeugt.

Der Autor von „Schöne neue Welt“ (brave new world) verfasste deshalb 1943 die Anleitung „Die Kunst des Sehens – Was wir für unsere Augen tun können“. In den Büchern „Schöne neue Welt“ und „Eiland“ bewies Huxley einen ungeheuren Weitblick für die Entwicklung der Gesellschaft. Für einen Augenoptiker und Bewunderer der beiden genannten Bücher war die „Die Kunst des Sehens“ demnach eine logische Pflichtlektüre.

Anleitung zum „richtigen Sehen“?

Der Umschlagteil des im Piber Verlag erschienenen Buches verspricht dem Leser nicht wenig zum Thema Augentraining:

„Die Kunst des Sehens informiert über den physikalischen Prozess des Sehens und über die psychischen Faktoren, die das Sehvermögen beeinflussen. Mit praktischen Hinweisen zur Verbesserung der Sicht liefert er eine Anleitung zum richtigen Sehen. Huxley der an einem schweren Augenleiden erkrankt war, erprobte diese Methode mit Erfolg an sich selbst – ein frühes Beispiel für eine alternative medizinische Therapie“

Was steckt hinter Huxleys „alternativer Therapie“? Welche Übungen hat Huxley ausprobiert und welche Wirkungen haben sie wohl tatsächlich erzielt?

Huxley’s Augenkrankheit

Aldous Huxley (1884 – 1963) wuchs als Sohn einer sehr gelehrten Familie auf. Bereits in seiner Jugend musste er allerdings einige Schicksalsschläge hinnehmen. Mit 14 Jahren verlor er seine an Krebs erkrankte Mutter. Kurz darauf beging sein Bruder Selbstmord. Mit 16 Jahren – während seiner Ausbildung im Eton College – erkrankte Huxley an einer derart heftigen Keratitis punctata, dass seine Sehleistung innerhalb von achtzehn Monaten eine drastische Verminderung erfuhr. Seine zentrale Sehschärfe dürfte auf einem Auge bei maximal 3/60 (Visus 0,05) gelegen sein, das andere Auge nahm laut seinen eigenen Angaben nur mehr Hell-Dunkel-Wahrnehmungen wahr. Zu diesem Zeitpunkt (um 1912) war Huxley sogar auf Brailleschrift und beim Gehen auf eine Hilfsperson angewiesen.

Aufgrund der ausgewachsenen Sehbehinderung konnte er nicht wie sein Großvater (Thomas Henry Huxley) Biologe und Arzt werden. Stattdessen studierte er in Oxford Anglistik. Das medizinische Interesse – insbesondere zum Thema Auge – blieb in ihm jedoch aufrecht.

Welche Übungen empfahl Huxley in seiner Anleitung zum Sehen?

Huxley war überzeugt, dass durch Übungen wie Abdecken der Augen, Sonnen der Augen, Atmungstechniken, Vermeidung einer Fixation des Objekts („starrer Blick“), Fixationsübungen (Ferne-Nähe) und ähnlichen Manöver sich die Sehleistung verbessern würde. Einige dieser Übungen, welche eine exzentrische Fixation antrainieren, könnten bei seiner Hornhaut-Trübung tatsächlich zu einer Verbesserung der Sehleistung geführt haben. So könnte Huxley in diesem Zusammenhang tatsächlich von den Lehren Bates profitiert haben.

Im Kapitel Lidschlag und Atmung empfiehlt der Autor nicht auf Lidschläge zu verzichten und ab und zu willentliche Lidschläge zu machen. Dies kann aus Sicht der Kontaktlinsenoptik und Optometrie nur als gut geheißen werden. Seine Anleitung zur „Kunst des Sehens“ birgt jedoch auch einige ausgesprochene Missverständnisse und Fehlschlüsse. So sind in seinem Buch auch Anleitungen zum „Wegtrainieren“ einer Fehlsichtigkeit zu finden. Huxley ging unter anderem dabei von einem Zusammenhang der Akkommodation mit der äußeren Augenmuskulatur aus, was sich mittlerweile als falsche Annahme erwiesen hat.

Werden Kinder bei Langeweile fehlsichtig?

Auch ging Huxley von einer korrelierend ansteigenden Dioptriestärke bei Langeweile aus. Als Beispiel führte er unter anderem hyperope Kinder an:

„Weil das weitsichtige Kind das Lesen unbequem findet, langweilt es sich bei dieser Tätigkeit und seine Langeweile verstärkt die Funktionsstörung, die es weitsichtig werden lässt.“

Diese Annahme ist nicht nur skuril sondern aus heutiger Sicht auch unhaltbar. Zeigen doch einige Studien (Slataper 1950, Saunders 1981), dass es eine Abhängigkeit der Fernpunktrefraktion vom Lebensalter gibt. Wenngleich auch die beiden Studien eine unterschiedliche Höhe der Dioptrienwerte aufweist, so ist bei beiden Studien eine eindeutige Tendenz der Myopisierung bereits im Kindesalter zu beobachten.

Slataper Alter
Eindeutig ist bei beiden Studien die Abnahme der Hyperopie …

Saunders Alter
… mit steigendem Lebensalter zu beobachten.

Eine Myopisierung ab dem Alter von 8 Jahren gilt mittlerweile als gesichert. Dies bedeutet, dass eine Zunahme der Hyperopie mit den Beginn der Pubertät als eher ungewöhnlich betrachtet wird.

Kurzsichtigkeit und deren psychische Komponente?

Huxley ging basierend von Bates davon aus, dass Kurzsichtigkeit aufgrund psychischer Komponenten entstehen würde. Bis heute ist wissenschaftlich nicht restlos geklärt, welche Faktoren die Kurzsichtigkeit beeinflussen. Primär stehen Theorien basierend genetisch bedingter Ursachen und äußerer Umwelteinflüsse wie verstärkte Naharbeit im Vordergrund. Mit stereotypen Spekulationen sollte man sich jedoch immer noch in Vorsicht üben.

Huxley empfahl bei kurzsichtigen Kindern mehr Licht und das Üben an kleineren Schriften in der Ferne. Nun kann eine Kurzsichtigkeit weder durch Akkommodation noch durch andere „Augen- oder Wahrnehmungs-Trainings“ numerisch minimiert werden. Hier ist einfach das Auge im Verhältnis zur Brechkraft zu lange. Ziel Huxleys und Bates war offensichtlich nicht eine Emmetropisierung der Fehlsichtigen, sondern eine „Gewöhnung“ und das Zufriedensein mit einer reduzierten Sehschärfe. Eine reduzierte Sehschärfe mag in der Zeit Bates (um 1920) für manche Berufe beziehungsweise Lebensweisen ausreichend gewesen sein. In der heutigen Leistungsgesellschaft ist diese Philosophie nicht nur nachteilig, sondern zum Teil sogar lebensgefährlich. Man denke nur an den gestiegenen Straßenverkehr in den letzten 60 Jahren!

Augenheilung durch Training?

Huxley sah Fehlsichtigkeit als Erkrankung an und warf den Augenärzten, Optometristen und Augenoptikern vor, dass sie statt zu heilen nur Krücken verschreiben würden. Dazu bediente er sich allerdings mit einem falschen Vergleich. Er beschrieb die Heilung eines verletzten Fußes, bei dem temporär auch Krücken verwendet würden – das Ziel der Heilung bliebe aber immer noch krückenlos zu werden. Der Vergleich eines verletzten Fußes mit einem fehlsichtigen Auge ist jedoch unzulässig. Das Fehlsichtige Auge ist um ein paar Zehntel Millimeter zu kurz oder zu lange gebaut – eine Laune der Natur. Auch die beiden Füße sind meist unterschiedlich groß. Auch steht die Schuhgröße nicht zwingend in einem mathematisch exakt definierten Verhältnis zur Körpergröße. Jeder von uns kennt diese Erscheinung vom Schuhkauf. Deswegen probiert man immer rechten und linken Schuh und nicht bloß einen der beiden. Niemand käme jedoch auf die Idee, diese Launen der Natur als „krank“ zu bezeichnen.

Nicht unkommentiert darf das Kapitel betreffend echter Augenerkrankungen sein. Wiewohl ein Augentraining bei auffälligen ACA-Quotienten (accommodative convergence / accommodation ratio), Heterophorien und bei der Anpassung vergrößernder Sehhilfen sinnvoll ist, darf dieses unter keinen Umständen als Ersatzmittel einer medizinischen Therapie bei echten Pathologien des Auges angepriesen werden. Huxley sah in den Augenübungen sogar einen Einfluss auf Augenpathologien:

„Wo der pathologische Zustand der Augen nicht Symptom einer Krankheit in einem anderen Körperteil, kann die Wiederherstellung der normalen und natürlichen Funktionsweise indirekt zu einer vollständigen Heilung führen. Das ist wie gesagt nicht anders zu erwarten; denn eine eingefahrene falsche Funktionsweise führt zu chronischer Muskelverspannung und zu einer Drosselung der Blutzirkulation. Ein Organsystem dessen Blutversorgung ungenügend ist, wird besonders krankheitsanfällig; dazu kommt, dass die einem Organ innewohnende Fähigkeit zur Regulation und Selbstheilung stark eingeschränkt ist. Jedes Verfahren, das die mit dem Sehen verbundenen psychophysischen Funktionen richtig ablaufen läßt, reduziert die Muskelverspannung, steigert die Blutzirkulation und stellt die vis medicatrix naturae wieder her. Diese Ergebnisse sind es im wesentlichen, wie sich gezeigt hat, die sich einstellen, wenn Menschen mit grünem Star, grauem Star, Regenbogenhautentzündung und Netzhautablösung lernen, ihre Augen und ihr Gehirn statt falsch wieder richtig zu gebrauchen.“

Zusammenfassung

Aldous Huxley’s Kunst des Sehens ist eine Art Erlebnisbericht aus seiner Sicht und unter dem Aspekt und Wissen der frühen 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Bei gewissen Gegebenheiten wie auffälligen ACA-Quotienten, Heterophorien und bei der Anpassung vergrößernder Sehhilfen kann ein Sehtraining wirklich Sinn machen. Huxley irrte jedoch im Hinblick auf das „Wegtrainieren“ von Fehlsichtigkeiten und Augenpathologien.

Die „Kunst des Sehens“ kostet 9,20 Euro und kann unter anderem hier online bestellt werden.

Der Autor dieser Rezension empfiehlt (off topic) uneingeschränkt die beiden Huxleys wirklich tollen Romane „Schöne neue Welt“ und „Eiland“.

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